Die strategische Lage Angerns im Dreißigjährigen Krieg. Angern war zu Beginn des 17. Jahrhunderts Sitz eines ausgedehnten Lehngutes der Familie von der Schulenburg, gelegen an der Grenze zwischen dem Kurfürstentum Brandenburg und den geistlichen Territorien Halberstadt und Magdeburg. Die Burg war Teil eines befestigten Ensembles aus Hauptburg, Vorburg und Turminsel. Ihre Lage machte sie im Kontext konfessioneller Konflikte und durchziehender Heere zu einem militärisch sensiblen Ziel.
Zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs um 1618 wies die Burg Angern noch weitgehend die hochmittelalterliche Grundstruktur aus dem 14. Jahrhundert auf. Die Anlage gliederte sich in drei funktional differenzierte Zonen: die Hauptburg mit dem Palas auf der zentralen Insel, die westlich vorgelagerte Vorburg mit Wirtschaftsgebäuden sowie eine isolierte Turminsel mit dem Bergfried. Diese Dreiteilung entsprach dem klassischen Schema altmärkischer Niederungsburgen (Zeune 1994; Dehio 2002). Die umlaufenden Wassergräben waren vermutlich noch intakt und bildeten eine wirkungsvolle erste Verteidigungslinie. Die Bauten selbst bestanden aus massiven Bruchsteinmauern mit tonnengewölbten Untergeschossen, Schießscharten und kontrollierten Zugangszonen – Merkmale, die auf eine ursprünglich wehrhafte Nutzung hindeuten. Gleichwohl fehlten der Anlage zeitgemäße Verstärkungen gegen neuartige Bedrohungen: Bastionen, Erdwälle und Artillerieplattformen waren nicht vorhanden, und die vorhandene Mauerstruktur war modernen Geschützen nicht gewachsen. Zudem lag die Burg strategisch isoliert und war in kein größeres Verteidigungssystem eingebunden (Menzel 2017).
Verteidigungsweise im Dreißigjährigen Krieg: Möglichkeiten und Grenzen
Die sich wandelnden Anforderungen frühneuzeitlicher Kriegsführung stellten traditionelle Burganlagen wie Angern vor strukturelle und funktionale Grenzen. Trotz intakter Wassergräben, massiver Gewölbebauten und einer weiterhin klar ablesbaren Inseldisposition konnte die Anlage dem Druck professionell geführter Angriffstruppen kaum mehr standhalten. Wie in vielen Burgen der Altmark hatten sich auch in Angern bereits vor 1618 bauliche Veränderungen eingestellt: Fenster könnten vergrößert, Wohnräume erweitert, neue Dachformen oder Kamine eingefügt worden sein. Diese Modifikationen belegen den Übergang von der militärischen zur wohnlich-repräsentativen Nutzung, ohne jedoch das Wehrkonzept völlig aufzugeben.
Im Verteidigungsfall standen noch klassische Mittel zur Verfügung: schließbare Brücken und Tore, rückzugsfähige Gewölberäume, eine isolierte Turminsel mit Beobachtungsmöglichkeiten und Schießscharten. Gegenüber der zunehmenden Mobilität und Feuerkraft frühneuzeitlicher Truppen, insbesondere gegenüber Reitereinheiten mit Brandmitteln und mobiler Artillerie, blieb dieser Verteidigungsstandard jedoch unzureichend. Die Ereignisse im Sommer 1631 – als das Holksche Regiment Angern angriff, plünderte und niederbrannte – zeigten die Grenzen dieser Mischform aus mittelalterlicher Wehrburg und frühneuzeitlichem Adelssitz deutlich auf.
Innenhof der Hauptburg Angern mit Palas und Bergfried
Heinrich von Holk und das Holksche Regiment
Die Region war zu diesem Zeitpunkt von konfessionellen Spannungen und militärischen Operationen zwischen kaiserlichen und protestantischen Kräften geprägt. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs war katholisch. Konkret war es Ferdinand II. (regierte 1619–1637), ein überzeugter Vertreter der Gegenreformation. Er betrachtete es als seine Aufgabe, den Katholizismus im Reich zu stärken und die protestantischen Territorien zurückzudrängen. Seine rigorose Religionspolitik war eine der zentralen Ursachen für den Ausbruch und die Eskalation des Dreißigjährigen Kriegs. Auch sein Nachfolger Ferdinand III. (ab 1637) war katholisch, verfolgte jedoch eine diplomatischere Linie. In diesem Zusammenhang wurde Angern als protestantisch geprägtes Ziel ausgewählt. Die Zerstörung diente der Abschreckung möglicher Unterstützer der schwedischen Intervention unter Gustav Adolf.
Das sogenannte Holksche Regiment war eine berüchtigte Reitereinheit unter dem Kommando von Heinrich von Holk (1599–1633), einem dänischen Adligen, der nach dem Frieden von Lübeck 1629 in kaiserliche Dienste trat. Am 26. März 1630 wurde er von Kaiser Ferdinand II. zum Oberst eines Regiments von 3000 Mann bestellt. Er gewann das Vertrauen Wallensteins und nahm am 20. Mai 1631 unter Tilly an der Eroberung Magdeburgs teil. Auch in Böhmen, das er unter Wallensteins Kommando von den sächsischen Truppen Feldmarschall Arnims zu säubern hatte, erhielt er Gelegenheit, seine militärische Tüchtigkeit zu beweisen. Nachdem Wallenstein nach seiner zwischenzeitlichen Entlassung im April 1632 vom Kaiser wieder den Oberbefehl übertragen bekommen hatte, wurde Holk auf Empfehlung von Wallenstein zum Generalwachtmeister ernannt.
Holks Regiment war bekannt für rücksichtslose Kriegsführung und berüchtigt für systematische Plünderungen, Brandschatzungen und Terror gegen die Zivilbevölkerung. Holk trat als aktiver Kritiker der militärischen Ineffizienz anderer Generäle auf, wurde aber selbst zum Symbol des brutalen Kriegshandwerks. Damals wurde auch das Kürassierregiment der „Holkschen Reiter“ aufgestellt, die Bekanntheit erlangten und in Schillers „Wallensteins Lager“ Erwähnung finden.
Realistisches Szenario: Nahkampf, Einnahme und und Zerstörung der Burg Angern (Sommer 1631)
Das realistischste Szenario für die Nahkampfhandlungen während der Zerstörung der Burg Angern 1631 lässt sich wie folgt historisch fundiert rekonstruieren – auf Basis der Quellenlage (v. a. Gutsarchiv Angern, Rep. H Nr. 444 und der Dorfchronik) und der militärischen Praxis des Dreißigjährigen Krieges.
Am 20. Mai 1631 wurde die protestantische Reichsstadt Magdeburg nach wochenlanger Belagerung von den Truppen der katholischen Liga unter Johann T’Serclaes von Tilly gestürmt. Der Angriff endete in einem der schlimmsten Massaker des Dreißigjährigen Krieges – der sogenannten "Magdeburger Hochzeit", bei der zwischen 20.000 und 30.000 Menschen den Tod fanden. Die Stadt ging in Flammen auf, und ihre Verteidigung war gebrochen. Nach der Eroberung und weitgehenden Zerstörung Magdeburgs befand sich das Umland der Stadt in einem Zustand militärischer Instabilität. Große Teile des Kurfürstentums Sachsen, insbesondere die Altmark und Nordbrandenburg, lagen offen – ohne feste Garnisonen, verwundbar für Durchzüge, Kontributionen und Plünderungen. Die kaiserlich-ligistischen Truppen begannen, sich in der Region zu befestigen.
Heinrich von Holk, ein Obrist dänischer Herkunft im kaiserlichen Dienst, war mit einem Reiterregiment aktiv, das zu dieser Zeit sowohl für militärische Sicherungseinsätze als auch für Versorgungsoperationen in Form von gewaltsamer Requirierung berüchtigt war. Holks Regiment war für seine Grausamkeit berüchtigt – wie Peter H. Wilson schreibt: „Holk’s Horse was notorious even in an age of atrocities“ (Europe’s Tragedy, 2009). Der Chronist Johann Michael Heineccius berichtet in seiner „Kurzen Historie von Magdeburg“ (ca. 1700), dass Obrist Holk nach der Plünderung der Stadt mit seinen Regimentern in das Umland zog, um durch Gewaltakte, Raubzüge und erzwungene Einquartierungen die Versorgung sicherzustellen. Dabei verweist er auch auf die Altmark als betroffene Region, ohne jedoch einzelne Ortschaften wie Angern namentlich zu nennen. Zeitgenössische Berichte wie das Theatrum Europaeum (Band 3, 1635) schildern, dass nach der Zerstörung Magdeburgs Reiterverbände plündernd durchs Umland zogen, Dörfer niederbrannten und gewaltsam Quartiere einnahmen.
Im Verlauf des Sommers kam es zu mehreren Gewalttaten in der Altmark; laut zeitgenössischen Quellen leisteten Holks Truppen am 28. Juli 1631 bei Wolmirstedt erbitterten Widerstand gegen schwedische Vorstöße, was ihre Präsenz in unmittelbarer Nähe zu Angern bestätigt. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass auch in den umliegenden Dörfern von Angern erste Übergriffe stattfanden.
Angern verfügte zu diesem Zeitpunkt über eine noch intakte, mittelalterliche Befestigungsstruktur mit Wehrmauern, einem achtgeschossigen Hauptturm und mehreren tonnengewölbten Gebäuden, die teils als Vorrats- und Fluchträume dienten. Die Burg befand sich im Besitz von Henning III. von der Schulenburg, der mit seiner Familie in Angern lebte. Die Schulenburgs waren selbst protestantisch geprägt, und ihre Bediensteten, Verwalter und vielleicht auch lokale Bauern könnten sich gegen Holks Überfall gewehrt haben. Da Henning selbst erst 1637 starb, ist davon auszugehen, dass er den Überfall erlebte – möglicherweise war er selbst nicht anwesend, möglicherweise aber auch direkt betroffen. Die Verteidigung der Burg war offenbar nicht durch reguläre Soldaten organisiert, sondern wurde durch eine Mischung aus Knechten und möglicherweise flüchtenden Dorfbewohnern getragen.
Phase 1 Vorlauf: Flucht in die Burg
In Erwartung weiterer Angriffe flohen Einwohner der Region, Bedienstete und möglicherweise protestantische Untertanen in die befestigte Burganlage von Angern, die als provisorischer Zufluchtsort diente. Die Formulierung in der Quelle, „wo sich viele fremde Örter hin salviret“, legt nahe, dass Menschen aus umliegenden Orten in die Burg geflüchtet waren und dort Schutz suchten. Die Burg selbst war zu dieser Zeit nicht mehr voll befestigt, aber noch funktionsfähig: Der achtgeschossige Turm mit angrenzenden Gebäuden bot Schutz.
Phase 2 Verteidigungsmaßnahmen
Die Fliehenden versuchten offenbar, sich zu verschanzen – vermutlich durch Barrikadierung der Zugänge (Pforte, Kellerräume), Schließen der Tore und eventuell Nutzung einfacher Waffen (Hieb-, Stichwaffen, alte Hakenbüchsen). Für eine mittelalterliche Wasserburg wie Angern kamen im Dreißigjährigen Krieg insbesondere folgende Schutzmechanismen in Betracht:
- Verriegelung der Außentore und Brückenzugänge durch Ziehbrücken oder Blockwerk,
- Einlagerung lebensnotwendiger Vorräte in den Gewölben (z. B. Korn, Wein, Salz, Wasser),
- Anlegen einfacher Palisaden oder Schanzen auf der Vorburg oder den vorgelagerten Wiesen,
- Nutzung des Bergfrieds als Rückzugsort mit kleinem Munitionsvorrat,
- Besetzung von Schießscharten, vor allem an Engstellen wie Brückenaufgängen,
- Signalgabe und Ausguck vom Wehrgeschoss des Turms.
Phase 3: Überfall durch Reiter – Erstkontakt
Angern lag strategisch exponiert nordwestlich von Magdeburg, etwa zehn Kilometer von Wolmirstedt entfernt – jenem Ort, an dem Holks Regiment am 28. Juli 1631 nachweislich in ein Gefecht mit vorrückenden schwedischen Truppen verwickelt war (vgl. Zeittafel zum Dreißigjährigen Krieg, Wikipedia; vgl. 30jaehrigerkrieg.de: Holk). Die Altmark gehörte zu den Regionen, in denen Holks Reiter nach der Eroberung Magdeburgs operierten. Damit befand sich Angern im unmittelbaren Einsatzgebiet dieser gefürchteten Kavallerieeinheit. Hinweise auf eine vorherige Nutzung der Burg durch kaiserliche Truppen sind in den überlieferten Quellen nicht eindeutig belegbar.
Laut der Dorfchronik von Angern wurde die Burg im Sommer 1631 in einem nächtlichen Überfall von einem Reitertrupp unter dem Befehl des Obristen Heinrich von Holk angegriffen. Aufgrund des typischen taktischen Musters solcher Reiterregimenter ist von einer kleineren, mobilen Einheit auszugehen – vermutlich 30 bis 100 Mann. Die erste Phase des Überfalls konzentrierte sich auf das Dorf: Gebäude wurden geplündert, Vorräte beschlagnahmt und alle Häuser in Brand gesetzt. Anschließend bewegten sich die Angreifer auf die Hauptburg zu, möglicherweise über den hölzernen Brückenzugang zur Insel. Die Zerstörung der Vorburg und der anschließende Angriff auf die Burgmitte markieren den Beginn des eigentlichen Gefechts um die befestigte Anlage.
Phase 4: Nahkampf im Burgbereich
Da keine Hinweise auf eine strukturierte Verteidigung durch reguläre Truppen bestehen, ist nicht von einer längeren Belagerung, sondern von einem plötzlichen, unmittelbaren Angriff auf die Burganlage auszugehen. Die Dorfchronik berichtet von zahlreichen Toten im Burghof und im sogenannten „Bruch“ – dem Bereich des heutigen Lustgartens. Dort ist mit einem eskalierenden Nahkampfgeschehen zu rechnen, das sich durch hohe Gewaltintensität bei geringer taktischer Struktur auszeichnete.
Angreifer: Holks Reiter agierten als schnelle Kavallerieeinheit mit leichter Bewaffnung. Üblicherweise führten sie Degen, ein oder zwei Rad- bzw. Steinschlosspistolen, gelegentlich Hellebarden oder improvisierte Brandkörper (z. B. mit Pech und Schwefel getränkte Stoffbündel). Ihre Kampfweise war auf Überraschung, Einschüchterung und Zerstörung ausgelegt.
Verteidiger: Die Verteidigung bestand aller Wahrscheinlichkeit nach aus Bediensteten, flüchtigen Bauern, vielleicht auch protestantischen Untertanen aus der Region, die in der Burg Schutz gesucht hatten. Sie verfügten kaum über Schusswaffen – allenfalls über veraltete Hakenbüchsen oder Pulvermuskete geringer Reichweite. Wahrscheinlicher ist der Einsatz improvisierter Waffen wie Sensen, Hämmer, Äxte oder landwirtschaftlicher Werkzeuge. Eine militärische Koordination fehlte vollständig.
Ort und Ablauf des Gefechts: Das Zentrum der Kampfhandlungen lag mutmaßlich im Bereich des Burgtors, des Hofes und des unteren Zugangs zum Turm sowie dem Nebengebäude zum Tiurm. Die Angreifer setzten vermutlich gezielt Feuer ein, um Widerstand zu brechen und Verwirrung zu stiften. Zwar boten der Bergfried sowie die gewölbten Räume des Palas kurzfristig Rückzugsmöglichkeiten, doch war eine koordinierte Verteidigung gegen den Überfall eines Reitertrupps unter diesen Umständen kaum möglich. Die Kämpfe entwickelten sich rasch zu chaotischen Nahgefechten unter beengten und unübersichtlichen Bedingungen.
Die archivalische Quelle spricht von „vielen toten Körpern, Kugeln und Kriegs-Arematouren im Hofe und Bruch“, was auf einen blutigen, unkontrollierten Gewaltausbruch hindeutet. Wie häufig in solchen Überfällen des Dreißigjährigen Krieges wurde dabei nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten unterschieden – das Geschehen nahm binnen kürzester Zeit den Charakter eines Massakers an.
Auffällig ist die Lage vieler Leichen im „Bruch“, dem sumpfigen Gelände südlich der Turminsel. Dies legt nahe, dass sich ein Teil der Bewohner aus dem Bergfried – möglicherweise durch das angrenzende Nebengebäude – über die Turminsel in Richtung Bruch zu retten versuchte. Der Übergang über den Graben in das schwer passierbare Gelände erfolgte vermutlich unter panikartigen Bedingungen. Die Flucht scheiterte jedoch: Entweder wurden die Flüchtenden von Angreifern eingeholt, oder sie kamen durch Erschöpfung, Verletzungen oder das Gelände selbst ums Leben.
Diese Verlagerung der Gefechtssituation vom Innenbereich der Burg in das offene Terrain deutet auf eine vollständige Überwältigung der Verteidigung und eine Eskalation der Gewalt über das unmittelbare Kampfgeschehen hinaus hin. Der Überfall auf Angern war damit kein militärisches Gefecht im klassischen Sinn, sondern ein beispielhaft brutaler Gewaltakt im Kontext der Konfessionskriege, der in kurzer Zeit katastrophale Folgen für Bevölkerung und Bausubstanz hinterließ.
Phase 5: Brandlegung und Zerstörung der Bausubstanz
Im Verlauf des Angriffs wurde die Burganlage in Brand gesetzt – entweder gezielt durch Holks Reiter oder infolge der vorangegangenen Kampfhandlungen. Die systematische Zerstörung von befestigten Rückzugsorten zählte zu den typischen Vorgehensweisen solcher Reiterregimenter, die durch gezielte Brandstiftung symbolische Dominanz demonstrierten und weitere Quartierverweigerung in der Region unterbinden wollten.
Das Feuer breitete sich wahrscheinlich rasch über die hölzernen Dachkonstruktionen, Aufbauten und Zwischendecken des Turms sowie des Palas aus. Die starke Hitzeentwicklung, Rauchgase und der teilweise Einsturz statisch geschwächter Gebäudeteile führten zu weiteren Todesopfern unter den in der Anlage eingeschlossenen Personen. Die Materialfunde – darunter Kugeln und Teile von Kriegsausrüstung – in Kombination mit der Erwähnung vieler Leichen in den archivalischen Quellen (Gutsarchiv Angern, Rep. H Nr. 444) bestätigen das Bild eines zerstörerischen Überfalls mit hoher Opferzahl.
Phase 6: Nachwirkungen und Spuren
„…ist vordem ein Bruch gewesen, worinnen man wie auch im Hofe viele tote Körper gefunden, auch Kugeln und Kriegs-Arematouren, welches eine Kundschaft anzeiget, daß es zu Bataille und blutigem Gefecht gekommen sei.“ (Gutsarchiv Angern Rep. H Nr. 444)
Die Quelle berichtet von später gefundenen:
- „toten Körpern“ – Zivilisten, ggf. auch Angreifer, unklar
- „Kugeln“ – Projektile von Schusswaffen, wohl Pistolen oder Hakenbüchsen
- „Kriegs-Arematouren“ – Rüstungsteile, Waffen, Gürtelschnallen, Sporen etc.
Fazit: Das wahrscheinlichste Nahkampfszenario: Ein unkoordinierter, brutaler Reiterüberfall auf eine nicht verteidigte, aber besetzte Burg, bei dem es zu chaotischen Nahkämpfen zwischen Angreifern und Flüchtlingen kam, die sich zur Wehr setzten. Der Einsatz von Feuer führte zur Zerstörung. Die wenigen Überlebenden flohen oder wurden verschleppt. Der Turm, einst das wehrhafte Zentrum, verlor seine Funktion – die Burg wurde nie wieder aufgebaut.
Motivation und Zielsetzung: Als befestigte, aber nur begrenzt verteidigungsfähige Anlage mit symbolischer Bedeutung und logistischer Nutzbarkeit war Angern ein typisches Ziel für Übergriffe auf dem Höhepunkt der militärischen Eskalation. Der Überfall war wahrscheinlich Teil eines kalkulierten Einschüchterungsmanövers: Die Zerstörung diente der Ausschaltung potenzieller Rückzugsorte protestantischer Kräfte und der Demonstration kaiserlicher Macht gegenüber der lokalen Bevölkerung – unmittelbar vor dem strategischen Umschwung durch den schwedischen Sieg bei Breitenfeld 7./17. September desselben Jahres. In der Schlacht bei Breitenfeld (nördlich von Leipzig) erleiden die Truppen der Katholischen Liga unter dem Feldherren Tilly eine schwere Niederlage gegen das erstmals gemeinsam agierende schwedisch-sächsische Heer unter König Gustav II. Adolf. Die Niederlage führt zum Siegeszug der Schweden bis nach Bayern. Die Angriffe unter Heinrich von Holk im Sommer 1631 verfolgten eine dreifache Zielsetzung:
- Militärisch-strategisch: Die Operationen dienten der gezielten Schwächung protestantischer Territorien im Vorfeld der absehbaren Konfrontation mit den anrückenden schwedischen Truppen unter Gustav II. Adolf. Durch das Niederbrennen von befestigten Positionen und die Ausschaltung potenzieller Rückzugsräume sollten Versorgungslinien und Kommunikationsachsen des Gegners destabilisiert werden.
- Versorgungstechnisch: Wie für viele frühneuzeitliche Söldnerheere üblich, erfolgte die Finanzierung der Truppen zu einem erheblichen Teil über Eigenversorgung und Beutezüge. Die Zerstörung von Angern diente daher auch der materiellen Selbsterhaltung der Einheiten Holks, die in der Region gezielt auf Vorratslager, Viehbestände und nutzbare Infrastruktur ausgerichtet waren.
- Psychologisch: Die brutale Vorgehensweise – schnelle Überfälle, Brandlegung und rücksichtslose Plünderung – hatte abschreckende Wirkung. Sie sollte die moralische Widerstandskraft der Bevölkerung und kleiner Garnisonen unterminieren und Loyalitäten zugunsten der kaiserlichen Seite verschieben.
Die schwedische Intervention unter König Gustav II. Adolf begann zwar bereits im Sommer 1630 mit der Landung auf Usedom, entfaltete jedoch erst im Herbst 1631 nach dem Bündnis mit Kursachsen und dem Sieg in der Schlacht bei Breitenfeld strategisch durchgreifende Wirkung. In der Zwischenzeit blieb die Region um Magdeburg und die Altmark militärisch instabil. Der Vorstoß schwedischer Truppen in das südliche Brandenburg führte im Juli 1631 zu direkten Gefechten mit kaiserlichen Einheiten – belegt ist ein heftiger Zusammenstoß mit Holks Regiment am 28. Juli bei Wolmirstedt, nur wenige Kilometer südlich von Angern. Diese angespannten Frontverhältnisse führten dazu, dass die Zivilbevölkerung in der Altmark dauerhaft zwischen die Lager geriet – betroffen von wechselnden Einquartierungen, Kontributionen, Plünderungen, Bränden und Seuchen. Eine stabile Ordnung konnte sich in der Region vorerst nicht durchsetzen.
Zerstörung der Burg
Die Burganlage wurde fast vollständig zerstört; nur das Pforthäuschen, ein Viehstall ohne Dach und die Brauerei blieben stark beschädigt erhalten.
„Bei dem anschließenden Brand des Dorfes kam auch die Burg zu Schaden. Nach einem alten Bericht blieben nur die beschädigte Brauerei, ein Viehstall ohne Dach und das ebenfalls beschädigte Pforthäuschen stehen.“ (Gutsarchiv Angern, Rep. H 79).
Trotz der erheblichen Schäden bestätigen spätere Quellen, dass wesentliche Teile der mittelalterlichen Kernstruktur überdauerten. So deutet eine Kirchenvisitation von 1650, die im Haus Heinrich von der Schulenburg stattfand, auf eine teilweise Wiederbewohnbarkeit der Burg hin. Besonders bemerkenswert ist der Eintrag, dass „die vier Keller und der alte Turm“ noch vorhanden waren. Damit sind mit hoher Wahrscheinlichkeit die tonnengewölbten Räume im Erdgeschoss des Palas sowie der Bergfried auf der Turminsel gemeint – massive Bauteile, die den Bränden standhielten und die spätere Wiederherstellung der Anlage ermöglichten. Diese erhaltenen Strukturen sind heute von großer Bedeutung, da sie einen der wichtigsten architektonischen Nachweise für die hochmittelalterliche Bausubstanz der Burg Angern darstellen.
Entgegen der Entwicklung in anderen Festungen wurde die hohe Ringmauer der Burg Angern höchstwahrscheinlich nicht durch gezielten Artilleriebeschuss zerstört. Das Holksche Regiment war vor allem für schnelle Überfälle und Brandlegungen bekannt, nicht für langwierige Belagerungen mit schweren Geschützen. Weder die überlieferten Quellen noch der archäologische Befund liefern Hinweise auf systematischen Kanonenbeschuss. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Ringmauer im Verlauf des 17. Jahrhunderts durch Feuer, einstürzende Aufbauten, strukturellen Verfall und spätere Materialentnahmen beschädigt und zerstört wurde. Dennoch sind bis heute Teile der Ringmauer erhalten, die bis zur Höhe des ersten Obergeschosses des Palas reichen.
Besonders schwer betroffen war der Palas auf der Ostseite der Hauptinsel. Das Gebäude mit funktionalen Wirtschaftsräumen im Erdgeschoss und dem repräsentativen Wohnbereich im Obergeschoss wurde durch Feuer stark beschädigt. Erhalten blieben vor allem die massiven Gewölbestrukturen des Erdgeschosses, Teile der Ostwand des Palas sowie die Ringmauer. Die Zerstörung erstreckte sich insbesondere auf Dach- und Fachwerkaufbauten sowie das hölzerne Interieur. Auch einige Etagen des angrenzenden Turms überdauerten möglicherweise den Brand und wurden erst 1735 bis auf das Erdgeschoss abgebrochen. Dieses Erdgeschoss mit den anschließenden Gewölben ist bis heute erhalten.
Militärische Präsenz in Burg Angern während des Spanischen Erbfolgekriegs
Während des Spanischen Erbfolgekriegs (1701–1714) war die verbliebene Burganlage in Angern auch im frühen 18. Jahrhundert von militärstrategischer Bedeutung. Im Jahr 1705 wurde ein Detachement des K.u.k. Böhmischen Dragoner-Regiments "Graf Paar" Nr. 2 zur Verteidigung der Anlage und zur Sicherung des umliegenden Gebiets abgestellt. Dragoner waren berittene Truppen, die sowohl als leichte Kavallerie für Aufklärung und schnelle Angriffe als auch für den Kampf zu Fuß eingesetzt wurden. Die Stationierung einer solchen Einheit in Angern verdeutlicht, dass die Burg noch immer eine wichtige Rolle in der regionalen Verteidigungs- und Kontrollstruktur innehatte. Diese Maßnahme fiel in eine Zeit, in der der Spanische Erbfolgekrieg ganz Europa erfasste und zahlreiche territoriale Konflikte im Heiligen Römischen Reich mit lokalen Machtverschiebungen einhergingen. Die militärische Präsenz in Angern sollte nicht nur die Burg selbst schützen, sondern auch wichtige Verkehrswege und Nachbargebiete überwachen, die im Krieg von strategischer Bedeutung waren. Die Entscheidung, Teile des Dragoner-Regiments „Graf Paar“ in Angern zu stationieren, lässt sich somit als Ausdruck der fortdauernden Bedeutung der Burg als militärisches und administratives Zentrum interpretieren, das auch nach den schweren Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges eine zentrale Rolle in der Herrschaftsstruktur der Region spielte.
Bedeutung von Marktrechten im frühneuzeitlichen Kontext
Die Gewalt traf nicht nur die befestigte Anlage, sondern auch das wirtschaftliche Zentrum Angerns. Im Gutsarchiv Angern, Rep. H Nr. 444, findet sich der Vermerk:
„Angern hat vordem auch Jahr- und Wochenmarkt gehalten, und ist durch den Brand so ruinieret, daß solches rückständig geblieben und eingegangen.“
Diese Aussage verdeutlicht, dass Angern einst als wirtschaftliches Zentrum mit regelmäßig stattfindenden Jahr- und Wochenmärkten fungierte, die für Handel, Versorgung und gesellschaftliche Kommunikation in der Region von großer Bedeutung waren. Solche Märkte waren im frühneuzeitlichen Europa zentrale Orte des Waren- und Informationsaustauschs, oft mit Marktrecht verliehen, das den jeweiligen Orten wirtschaftlichen Aufschwung sicherte.
Der erwähnte Brand, der zum Niedergang der Jahr- und Wochenmärkte in Angern führte, ist als direkte Folge der kriegerischen Zerstörungen im Jahr 1631 durch das Holk’sche Regiment zu verstehen. Er führte zu einer nachhaltigen Zerstörung der dörflichen Infrastruktur und beeinträchtigte die Funktion Angerns als Marktplatz erheblich. Die Folge war ein dauerhafter Rückgang der Markttätigkeiten und damit eine Schwächung der ökonomischen und sozialen Strukturen des Ortes.
Dieser Befund steht beispielhaft für viele Kleinstädte und Dörfer im norddeutschen Raum, die im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges und anderer Konflikte massive Schäden erlitten. Die Einstellung oder der Niedergang von Märkten bedeutete nicht nur wirtschaftliche Einbußen, sondern auch den Verlust sozialer Verbindungen und regionaler Bedeutung.
Die Quelle aus dem Gutsarchiv Angern liefert damit einen wichtigen Einblick in die nachhaltigen Folgen von Krieg und Zerstörung auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung kleinerer Städte im 17. und 18. Jahrhundert und unterstreicht die Verwundbarkeit solcher Zentren gegenüber Katastrophen.
Marktrechte waren im Mittelalter und der Frühen Neuzeit ein bedeutendes Privileg, das einzelnen Städten oder Dörfern von Landesherren verliehen wurde. Diese Rechte erlaubten das Abhalten von Wochen- oder Jahrmärkten, die als wichtige wirtschaftliche und soziale Treffpunkte fungierten. Märkte förderten nicht nur den regionalen Handel mit landwirtschaftlichen Produkten und Waren, sondern auch die Vernetzung von Menschen und den kulturellen Austausch. Das Fehlen oder der Verlust von Marktrechten, wie im Fall von Angern infolge des verheerenden Brandes, bedeutete häufig einen erheblichen wirtschaftlichen Rückschlag. Ohne die regelmäßigen Märkte verlor ein Ort an Bedeutung, was negative Auswirkungen auf seine Entwicklung und das Wohlstandsniveau der Bevölkerung hatte.
Quellen
Die vorliegende Darstellung stützt sich auf eine Transkription durch die Angerner Dorfchronistin Brigitte Kofahl, deren Arbeiten eine wichtige Grundlage für die Erschließung des Gutsarchivs bilden.
- Gutsarchiv Angern, Rep. H 79: Bericht zur Zustandserfassung der Nebengebäude nach dem Brand (Dorfchronik Angern).
- Gutsarchiv Angern, Rep. H 76: Inventar und bauliche Beschreibung des Palas und der Ringmauer (1752).
- Gutsarchiv Angern, Rep. H 444: Beschreibung des Bergfrieds, Funde von Kriegsmaterial und toten Körpern sowie Hinweis auf den Turmabriss 1735.
- Gutsarchiv Angern Rep. H 417
- Gutsarchiv Angern, Rep. H 13, Nr. 38: Kirchenvisitation 1650 im Haus Heinrich von der Schulenburg
- Kofahl, Brigitte: Dorfchronik Angern
- Brülls/Könemann (2001): Denkmalverzeichnis Sachsen-Anhalt, Bd. 10.2
- Press, V. (1991): Der Dreißigjährige Krieg
- Zeune, J. (1994): Burgtypen in Mitteleuropa
- Menzel, R. (2017): Burgen und Festungen der Frühen Neuzeit
- Lutz, Dieter: Heinrich von Holk – Generalwachtmeister im Dreißigjährigen Krieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 25 (1969).
- Parker, Geoffrey: Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt am Main 1987.
- Wollesen, Jens: Die Reiterei im Dreißigjährigen Krieg, München 2001.
- Dehio, Georg (2002): Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Sachsen-Anhalt I: Regierungsbezirk Magdeburg. München/Berlin.
- Grimm, Paul (1958): Die vor- und frühgeschichtlichen Burgwälle der Bezirke Halle und Magdeburg. Berlin.
Zur Zerstörung Magdeburgs am 20. Mai 1631:
-
Theatrum Europaeum, Band 3 (Frankfurt am Main, 1635): ausführlicher Bericht über die Belagerung, Einnahme und Zerstörung Magdeburgs durch Tillys Truppen.
-
Vgl. auch: Peter H. Wilson, Europe’s Tragedy: A History of the Thirty Years War, London 2009, S. 444–446.
Zum Regiment Heinrich von Holks:
-
Peter H. Wilson: Europe’s Tragedy, London 2009, S. 445: „Holk’s cavalry devastated large parts of northern Saxony, Brandenburg and the Altmark between May and August 1631.“
-
Ebd., S. 529: „Holk’s Horse was notorious even in an age of atrocities.“
Zum Gefecht bei Wolmirstedt (28. Juli 1631):
-
Wikipedia (Stand Juni 2025): Zeittafel zum Dreißigjährigen Krieg, Eintrag 28. Juli 1631: „Kaiserliche Truppen unter Holk leisten bei Wolmirstedt (nördl. von Magdeburg) den Schweden erbitterten Widerstand.“
Zur lokalen Flucht in die Burg Angern:
-
Gutsarchiv Angern, Rep. H Nr. 444: Erwähnung zahlreicher Leichen und Kriegsmaterialien im Bereich des heutigen Lustgartens; Hinweis auf Fluchtbewegung in den achtgeschossigen Turm („… wo sich viele fremde Örter hin salviret …“).